Neue Software - alte Probleme?
Von den Herausforderungen der Digitalisierung
Das letzte Jahr hat einen unglaublichen Digitalisierungsschub gebracht. Vor Beginn der Corona-Krise wäre es schlicht unvorstellbar gewesen, wie viele digitale Anwendungen heute eine Selbstverständlichkeit geworden und auch in Kirche und Diakonie nicht mehr wegzudenken sind. Gleichzeitig ist damit aber auch der Druck für alle Non-Profit-Organisationen gestiegen, digital auf der Höhe der Zeit zu sein und bisherige Versäumnisse aufzuholen.
Viele Organisation und Einrichtungen werden deshalb neue digitale Anwendungen einführen. Solche Projekte werden mit großer Erwartung gestartet: „Die neue Software / die neue Kommunikationsplattform / das digitalisierte Prozessmanagement wird alle Probleme lösen!“ Dieser Überschwang ist gut, denn sonst fände man schwer den Mut, sich an solche Projekte heranzutrauen. Doch die Realität holt die Beteiligten in der Regel schnell ein, und sie finden sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert.
Dabei gibt es zwei Gruppen von unerfreulichen Überraschungen. Auf der einen Seite stehen die neuen Probleme, die direkt mit der einzuführenden Anwendung zusammenhängen: die neue Software läuft nicht stabil, die alte Hardware erweist sich als nicht leistungsfähig genug oder niemand versteht, wie das neue System zu bedienen ist. Für all diese Themen sind die IT-Dienstleister die richtigen Ansprechpartner: sie programmieren um, bauen neue Hardware ein, überspielen Daten und schulen die Mitarbeitenden. Und am Ende läuft die neue Anwendung und alle sind mit ihrer Bedienung grundsätzlich vertraut.
Aber dann zeigt sich oft eine zweite Gruppe von Problemen. Zunächst meint man, dass diese auch durch die neue Anwendung entstanden seien. Aber ein genauerer Blick offenbart, dass die die neue Anwendung nur alte Probleme ans Tageslicht befördert hat: Wenn die neue Software eine andere Aufteilung der Arbeit notwendig macht, dann treten plötzlich lang stillgestellte Teamkonflikte hervor. Oder für die neuen Abläufe müssen jetzt Dinge eindeutig geklärt werden, die vorher gut im Vagen belassen werden konnten: Verantwortlichkeiten, Kostenzuordnungen, Datenschutzfragen und vieles mehr…
Sehr häufig bringt die Einführung einer neuen digitalen Anwendung ein ganzes Bündel ungelöster Themen auf den Tisch. Plötzlich ist die Organisation gezwungen, Fragen zu entscheiden, die vorher lieber in den Hintergrund geschoben wurden. Diese Dinge jetzt zu bearbeiten ist zwar anstrengend, aber enorm wichtig. Denn wenn hier erneut weggeschaut wird, besteht die Gefahr, dass die Einführung der neuen digitalen Anwendung scheitert oder zumindest nicht die gehoffte Effizienzsteigerung bringt.
Bei der Planung von Digitalisierungsprojekten sind die Verantwortlichen daher gut beraten, wenn sie sich nicht nur auf die technischen Aspekte konzentrieren, sondern sich klar machen, dass ein solches Projekt in ihrer Organisation sowohl die Ablaufarchitektur und als auch die soziale Dynamik nachhaltig verändern kann. Mit einer solchen erweiterten Perspektive auf die Einführung einer neuen Anwendung stellt sich z. B. die Frage, welche alten Themen im besten Fall bereits vor Projektbeginn bearbeitet werden können. Und es entsteht ein Bewusstsein, dass ein Großteil der Arbeit erst dann beginnt, wenn die neue Anwendung läuft und das Projekt damit für manchen schon abgeschlossen zu sein scheint.
Außerdem ist es hilfreich, die mit dem Projekt einhergehende Veränderungsdynamik im Blick zu behalten: Verändert die neue Anwendung sehr viel auf einmal, dann kann es notwendig sein, die Organisation in dieser Umbruchsphase zu stabilisieren und keine weiteren Veränderungen anzuschieben. Wenn aber der Umbruch durch die neue Anwendung nicht so groß ist, kann die Veränderungsenergie, die mit dem Projekt einhergeht, genutzt werden, um auch in anderen Bereichen der Organisation alte Strukturen zu verabschieden und neue Wege zu erproben.
Es ist allerdings eine Herausforderung für die Verantwortlichen, dass diese Themen und Fragen von den IT-Dienstleistern oft nicht bearbeitet werden, sei es, weil sie aus Kostengründen nicht Teil des Auftrags sind, sei es, weil der Dienstleister einen rein technischen Fokus hat.
Bei einem Studientag der Fachstelle Organisationsentwicklung haben wir im September 2020 mit rund 60 Berater*innen des IPOS und externen Fachleuten aus Kirche, Diakonie, Wissenschaft und Wirtschaft zu den Dynamiken von Digitalisierungsprojekten gearbeitet. Im gemeinsamen Nachdenken von IT-Fachleuten und Organisationsentwickler*innen wurde deutlich, dass die beiden Professionen inzwischen über eine wichtige inhaltliche Schnittmenge verfügen: Modernes IT-Management ist sich bewusst, wie wichtig die Organisations- und Beziehungsdynamiken für das Gelingen auch eines primär technischen Projektes sind, und für Organisationsentwickler*innen ist heutzutage klar, dass eine Beratung von Organisationen in Umbrüchen auch den Einfluss berücksichtigen muss, den Veränderungen in der IT auf die Prozesse und Arbeitsbedingungen nehmen. Im Idealfall arbeiten IT und OE bei Digitalisierungsprojekten unmittelbar zusammen und ergänzen wechselseitig ihre Perspektiven auf das hochkomplexe Geschehen.
Dieser intensive fachliche Austausch hat uns im IPOS darin bestärkt, das Thema der Verknüpfung von Organisationsentwicklung und IT-Veränderungsprojekte weiter auszubauen. Dabei lernen wir nicht zuletzt am eigenen Modell, da wir aktuell mit Hilfe eines externen IT-Fachberaters mehrere Projekte zur Digitalisierung in unserer Verwaltung durchführen. Gerne teilen wir unsere Erfahrungen aus der Verbindung von Organisationsentwicklung und IT-Management – wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen.
Dr. Christopher Scholtz, Institutsleitung und Leitung Fachstelle Organisationsentwicklung
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