Kleine Schritte sind besser als keine Schritte
Nachlese zum Vortrag von Friedrich Glasl zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine
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Wenige Wochen nach Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine hat der Bundesverband Mediation e.V. (BM) gemeinsam mit Trigon zu einer Analyse von Friedrich Glasl des kriegerischen Konflikts zum Thema "Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine" eingeladen. Die über 1.700 Teilnehmer:innen durften der äußert scharfsinnigen und präzisen Anwendung der klassischen Konfliktanalyse und -lösungswerkzeuge Glasls auf den aktuellen Konflikt beiwohnen. Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Analyse, die meines Erachtens für Konflikte jedweder Größenordnung zutreffen, versuche ich an dieser Stelle zusammenzutragen.
Der erste Schritt ist eine realistische Einschätzung der Eskalationslage. Ein Angriffskrieg in seiner zerstörerischen Dimension bedeutet nicht unmittelbar den Sprung auf die höchste Eskalationsstufe, auch wenn die Bilder von brennenden und zerbombten Häusern unmittelbar in diese Einschätzung einladen. Dieser Einschätzung entsprechend gilt es die 'Werkzeuge' eines deeskalierenden Prozesses zu wählen, um eine weitere Eskalation – also den weiteren Abstieg in der Dynamik – zu verhindern.
Dabei geht es dann darum, zunächst eine Art 'Soforthilfe' von einer mittel- oder längerfristigen Lösungsstrategie zu unterscheiden. Zu weitreichende Ziele und Forderungen oder auch zu große Schritte werden in der Konfliktdynamik mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Ver-)Weigerung oder sogar einer weiteren Eskalation führen.
Eine Überforderung des Prozesses kann schnell als eine Bestätigung der Vorannahme, dass mit dem Gegenüber sowieso nicht verhandelt werden könne, gedeutet oder sogar missbraucht werden.
Soforthilfe in diesem Sinn kann sich wie folgt gestalten:
- Es gilt alle (!) bestehenden Zugangsmöglichkeiten zu den Konfliktparteien zu prüfen. Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Personen(gruppen) oder Organisationen geben, die Zugang zu beiden Parteien haben, also als eine Art 'Brücke' oder 'Scharnier' fungieren können. Es ist gut möglich, dass gerade solche 'Trickster' mindestens den Wertekanon einer der Parteien (deutlich) in Frage stellen. Werden diese jedoch aufgrund der Verhärtungen im Konflikt von einer Seite 'dämonisiert' fallen sie in ihrer möglichen Schlüsselfunktion aus.
- In den Systemen wird es Personen(gruppen) oder Organisationen geben, die entweder faktische Macht oder Einflussmöglichkeiten aus Prestigegründen haben, aber keineswegs vollkommen mit dem Konflikt oder der entsprechenden Konfliktpartei identifiziert sind. An diese gilt es konstruktive Appelle zu richten. Konstruktiv in diesem Sinne meint nicht deren vollständigen Widerspruch zu erwarten und zu fordern, sondern vielmehr diese einzuladen die Handlungsspielräume im Hinblick auf die eigenen Interessen auszuloten und auszuschöpfen.
- Diesen Gedanken weitergedacht bedeutet auch die Autonomie von Kultur, Sport, Religion und Wissenschaft – also die Bereiche, die nicht per se und niemals gänzlich einer politischen Kontrolle unterliegen – zu stärken und deren Kommunikationskanäle und vor allem deren Innovationskraft zu achten und lösungsfokussiert zu nutzen. Auch könnte es eine Stärkung und ein Ernstnehmen der eigenen Werte bedeuten, Menschen eines Staates nicht kollektiv in die Verantwortung und Haftung zu nehmen.
- Wie soeben beschrieben haben eskalierende Konflikte in ihrer Dynamik die Eigenschaft zu 'homogenisieren' und zu verallgemeinern. Eine wirksame Sofortmaßnahme – und auch im weiteren Prozess wichtiges Werkzeug – ist die Differenzierung. Dabei gilt es 'Protagonist:innen', von 'Stakeholdern' sowie 'Zaungästen' (vgl. W. Kerntke 2018) oder sogar Gleichgesinnten und Unterstützer:innen zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung identifiziert die tatsächlichen Aggressor:innen und lädt bestenfalls die, die nicht in der Aggressionsverantwortung stehen, zur Unterstützung in der Lösungssuche ein.
- Ebenfalls verführen Konflikte zu ungemessenen, verletzenden oder schlicht (historisch) verkehrten Vergleichen. Spätestens wenn Hitlervergleiche angeführt werden, wird deutlich, dass darin keine konstruktive Kraft mehr liegen kann. Vielmehr sollten Appelle so formuliert werden, dass die Würde aller Beteiligten und deren Wahrung im Vordergrund steht (z. B. "Verschont unsere Kinder!").
Bestenfalls unterstützen diese Sofortmaßnahmen, die hier keinerlei Vollständigkeit beanspruchen, die Abfolge von Waffenruhe zu Waffenstillstand – man beachte auch hier die Kleinschrittigkeit des Prozesses – und schließlich zu Friedensverhandlungen und dem Aufbau einer mittel- und langfristigen Friedensarchitektur.
Für den Friedensprozess verweist Glasl auf die Gleichzeitigkeit der Verhandlungen auf mehreren Prozessebenen ('tracks') von denen die politische Ebene zwar eine bedeutsame, aber keineswegs die einzige ist. So geht es in dem Prozess darum, frühzeitig alle Kräfte der an einer konstruktiven Lösung Interessierten (Wirtschaft, NGOs, zivilgesellschaftliche Organisationen, Medien, etc.) miteinzubeziehen, da diese wiederum wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen. Sollte dann der Prozess auf einer Ebene ins Stocken geraten oder sogar Rückschritte machen, so ist es möglich, dass die anderen 'tracks' diesen kompensieren.
Einen kurzen Exkurs möchte ich an dieser Stelle – unabhängig vom Vortrag – noch machen: In den siebziger Jahren hat die Politik Deutschlands unter Willy Brandt unter der Überschrift "Wandel durch Annäherung" wirtschaftlichen Austausch und Verknüpfungen geschickt genutzt, um die Möglichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West zu verkleinern. Im 21. Jahrhundert haben auf den ersten Blick ähnliche Verbindungen, die jedoch nicht von der dahinterliegenden politischen Agenda getragen sind, zu massiven Abhängigkeiten geführt. Die Klimabewegung verweist dabei vor allem auf die Dimension der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern (vgl. Podcast "1,5 Grad") und damit verbundene Finanzierung des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine durch Geld aus Europa. Von daher ist es nur naheliegend, dass sich Klima- und Friedensbewegung solidarisieren. Im Glasl'schen Sinne ist das einer der 'tracks', die es zu stärken gilt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Friedensarbeit zu guten Teilen von Konfliktlösungsstrategien getragen werden kann, die auf der Makro- wie auf der Mikroebene deutliche Ähnlichkeiten haben. Solche Werkzeuge lassen sich in zahlreichen Büchern nachlesen und sie werden von kompetenten Menschen gelehrt. Dazu werden sie von genau diesen Menschen permanent weiterentwickelt, modifiziert und verfeinert. Mich hat der Vortrag von Friedrich Glasl vor allem darauf zurückgeworfen, dass es in der Konfliktlösung darum geht das richtige Schrittmaß zu suchen: Gibt es keine Schritte werden Konflikte ihrer eigenen Dynamik folgen und die ist in der Regel destruktiv. Sind die Schritte zu groß kann es passieren, dass sie den Konfliktparteien die Grundlage für ein "Hab' ich es doch gewusst!" liefern. In diesem Sinn habe ich Friedrich Glasls Vortrag als Ermutigung zur Geduld mit den kleinen Schritten der Konfliktlösung verstanden und so zitiert dieser auch am Ende seines Vortrags Václav Havel: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal, wie es ausgeht."
Alexander Janka, Fachstelle Organisationsentwicklung