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   Schwindelig durch die Krise

   Assoziationen zu den aktuellen Geschehnissen

    aus dem eigenen Erleben und der Beratung 


Bild: copyright Sean Manning on pexels.com


Auf hoher See 

 

Wenn wir bei heftigen Winden auf dem Wasser sind, erleben wir, dass unsere Erfahrung, dass Zimmerwände senkrecht sind und der Boden, auf dem wir stehen, unbeweglich ist, nicht mehr stimmt. Das Schwerefeld, an dem sich das Gleichgewicht orientiert, ist keine Konstante mehr. Durch die ständigen Schaukelbewegungen des Schiffes nimmt das Gleichgewichtsorgan wahr, dass der Körper andauernd in Bewegung ist und kippt. Das Gehirn erhält widersprüchliche Informationen, die es nicht einordnen kann. Ein Zustand zunehmender Orientierungslosigkeit tritt ein. Man fühlt sich wie in einer Kugel hin und her geworfen. Der Horizont verschwimmt. Die aufgestaute psychische Energie sucht ein Sicherheitsventil, der Körper drückt es aus und reagiert mit Müdigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. 


Die Situation: Unsicherheit, Stress und Verlust 

 

Was in den letzten zwei Jahren seit Pandemiebeginn und in den letzten Monaten seit Kriegsbeginn passiert, hat meine mentalen Gerüste, meine Gewissheiten im Kontext aller Ungewissheiten ins Wanken gebracht. Konstrukte der "alten Welt" sind beschädigt und funktionieren nicht mehr. Die Deutungsverluste, Dekonstruktionen und das Nichtwissen haben mich ohne Geländer auf hohe See geschleudert, so dass mir sowohl als Privatperson als auch als Beraterin im wahrsten Sinne des Wortes manchmal übel vor Schwindel ist, anders ausgedrückt: Verwirrung, Verstörung und Widersprüchlichkeit prägen meinen mentalen Zustand - der Horizont verschwimmt. 

 

Und es geht noch weiter: Auf offener See habe ich Verluste zu verschmerzen. Status- und Zukunftsverluste der postindustriellen Modernisierungsverlierer, Traumata von Individuen und Gruppen als Opfer individueller und kollektiver Gewalterfahrungen, prognostizierte Verlusterfahrungen durch die ökologische Krise. Das Verlust- und Gewaltnarrativ schiebt sich von der Hinter- auf die Vorderbühne und wird zum identitätsstiftenden Element (vgl. Andreas Reckwitz). 

 

Ich habe meine Komfortzone nicht bewusst und gesteuert verlassen, weil ich Lust auf Veränderung hatte, sondern ich wurde weit aus meiner Komfortzone durch die Entwicklungen im Außen radikal herausgeschleudert. 

 

Die unmittelbare Reaktion des archaischen Gehirns 

 

Es ist bekannt, wir wissen es: Das Verlassen der Komfortzone erzeugt Stress. Wir reagieren in den Urmustern unseres archaischen Gehirns: Erstarrung, Flucht, Kampf, Unterwerfung. Wir machen "die Schotten dicht" und der Röhrenblick nimmt zu. Wir verlieren das Gefühl für uns selbst, den Kontakt zu uns selbst, wir verlieren die Empathie für das Gegenüber und den Kontakt zum Gegenüber. Resonanzgeschehen ist nicht mehr möglich. Neben dem Verfallen in die Urmuster setzt ein Prozess der Regression ein. Das Handeln entspricht nicht mehr der aktuellen Reife der Handelnden. Menschen büßen ihre Ich-Steuerung ein (nach Friedrich Glasl). 

 

Wir werden emotional so überwältigt, dass unser Nervensystem die Intensität der Emotionen nicht mehr integrieren kann. Das hat zur Folge, dass Hirnregionen ausgeschaltet werden (nicht mehr online sind). Wir sind im inneren Überlebenskampf, sind wie von Sinnen und werden reaktiv. Daniel Auf der Mauer beschreibt daher Konflikte als eine Krise des Nervensystems und einen Beziehungszustand, der in die Beziehungsabstinenz führt. Ich will, dass das, was mich überfordert aufhört, und deswegen will ich keine Beziehung mehr in dieser Situation. 

 

Das Potenzial des "Loopings" und der Gemeinschaft 

 

Um wieder in selbstbestimmtes Handeln zu kommen, gilt es innezuhalten, durchzuatmen und neu wahrzunehmen, aus den Urmustern auszusteigen und in bewusstes Handeln zu kommen, in die Ich-Steuerung und Gegenwartspräsenz. 

 

In der Zusammenarbeit mit vielen Kita-Teams haben wir das in den letzten zwei Jahren immer wieder bewusst gemacht. Es braucht die Anbindung an ein anderes Außen, um es zu schaffen, aus der unmittelbaren Reaktion auszusteigen, von der Absenz, der automatisierten Reaktion über das archaische Gehirn in die Präsenz zu kommen.  Es braucht also das (beraterische) Gegenüber, jemand der einen "looped", um in die Ich-Steuerung und Gegenwartspräsenz zu gelangen, um als Erzieher:innen wieder für die Kinder da sein zu können. 

 

Gerald Hüther schreibt, dass es zwei Dinge braucht, damit wir Altes verlernen und Neues lernen können. Es braucht Krisen (zur Lösung der alten Synapsen) und Gemeinschaft (zum Bilden von neuen Synapsen).  Ein zweites Medikament gegen die Seekrankheit ist also das Sich-Verbinden mit anderen in der Krise. Wir brauchen die gemeinsamen Entwicklungsräume, die Halt geben, Geländer bieten, in denen gemeinsam ausgehalten werden kann, allen voran die Ohnmacht, in denen auch ein "Halt!" (im Sinne von "Stopp!") formuliert werden kann. 

 

In einer Gruppe von Kitaleitungen fällt oft der Satz: "Ich glaube, ich bin verwirrt!" Die Gruppe hat sich den Namen "Die Reisenden" gegeben. Sie sind gemeinsam unterwegs im "Dazwischen", "auf hoher See", "im Umgang mit Unterschieden". Sie sind dabei "neue Räume aufzumachen", sich gegenseitig zu halten, auszuhalten und gemeinsam Neues zu lernen, auch: füreinander da zu sein. Indem sie sich verbinden und "safe places" kreieren, kann Neues gelernt werden für das Bewältigen des Kita-Alltags unter den existierenden Rahmenbedingungen und mit all dem, was die Kinder gerade mitbringen. Die existierenden Widersprüche und auch die Ohnmacht gegenüber dem, was überwältigend ist, können gemeinsam besser ausbalanciert und ausgehalten werden. Und der Schwindel schwindet… zumindest immer wieder mal. 

 

Alles ist in ständiger Bewegung. Alles fließt. Aber zurzeit nicht wie in einem ruhigen Fluss. Sondern die Wellen schlagen hoch auf offener See und ein Horizont ist nicht in Sicht, und scheint er kurz in Sicht, verschiebt er sich sogleich wieder. Zuversicht kommt von Sicht. Die Sicht auf den Horizont kann aber gerade nicht die Zuversicht nähren. Das steht uns nicht zur Verfügung. Die Sicht aber auf das Naheliegende, die könnte es vielleicht doch. Und das ist, gesprochen mit Rose Ausländer: "Freunde, wir reisen gemeinsam!". Und das ist: Wenn das Außen nicht mehr die Quelle der Orientierung sein kann, dann wandert die Aufmerksamkeit ins Innen, sich dort die Haltepunkte - in Verbindung mit Anderen - zu erschließen. 


Mathias Horx schreibt: "Thrawn" bedeutet "ver-rückt" zu sein gegenüber äußeren Kontexten. Er meint damit nicht ein pathologisches Verrücktsein oder eines, das aus der Überforderung der Welt resultiert, sondern ein Ver-rücken der Perspektive: Nicht das Außen erzeugt die Realität, sondern das Innen. Die Basis dafür ist ein "Bei-sich-Sein", das die Welt lässt, wie sie ist - und sich selbst dennoch weiterentwickelt (nach Mathias Horx). 

 

Ausblick 

 

Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht. Langsam haben wir es begriffen. Verwirrung, Verstörung, Verletzung sind "das aktuell Normale". Aber wir haben Mittel gegen die Seekrankheit zur Verfügung: Looping, Verbindung, Aushalten der Ohnmacht (anstatt in alten Mustern zurückzuschlagen), Akzeptanz der Orientierungslosigkeit, Präsenz, Resonanz und - die Kunst: 

 

Vergesst nicht Freunde 

Wir reisen gemeinsam 

Besteigen Berge 

Pflücken Himbeeren 

Lassen uns tragen 

Von den vier Winden 

Vergesst nicht 

Es ist unsere gemeinsame Welt 

Die ungeteilte 

Ach die geteilte 

Die uns aufblühen lässt 

Die uns vernichtet 

Diese zerrissene 

Ungeteilte Erde 

Auf der wir 

Gemeinsam reisen 

 

Rose Ausländer 

* 1901 in Czernowitz, gest. 1988 in Düsseldorf. Sie war Verfolgte des NS-Regimes. 

 

 

Freunde, dass der Mandelzweig
Wieder blüht und treibt,
Ist das nicht ein Fingerzeig,
Dass die Liebe bleibt? 

Dass das Leben nicht verging,
Soviel Blut auch schreit,
Achtet dieses nicht gering,
In der trübsten Zeit. 

Tausende zerstampft der Krieg,
Eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
Leicht im Winde weht. 

Freunde, dass der Mandelzweig
Wieder blüht und treibt,
Ist das nicht ein Fingerzeig,
Dass die Liebe bleibt? 

  

Schalom Ben-Chorin 

geschrieben 1943 im Bewusstsein von Vernichtung und Kriegsgräuel, nachdem er gerade noch nach Israel vor den Nazis entkommen konnte. Sein deutscher Name war Fritz Rosenthal. 



Irmtraud Weissinger