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    Marathon und Transformation

    Gelingende Transformationsprozesse brauchen

     - wie der Marathon - einen langen Atem


Bild: copyright Chander R. on unsplash.com


Marathon und Transformation scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben: auf der einen Seite Sport, auf der anderen Seite Veränderungsprozesse in beruflichen Kontexten. Und doch zeigen sich bei näherem Hinsehen spannende Verbindungen: Gelingende Transformationsprozesse brauchen - wie der Marathonlauf - einen langen Atem. Und es gibt noch mehr Parallelen.


Für mich sind beides zentrale Lebensthemen, die ich hier miteinander in einen Dialog bringen möchte. Dabei fällt mir als Erstes auf, dass beide Themen etwa gleichzeitig in mein Leben kamen: Im Jahr 1999 lief ich meinen ersten Marathon, und etwa zur gleichen Zeit habe ich begonnen, an Kirchenreform- und anderen Veränderungsprozessen mitzuarbeiten.


Die Transformation ist anders – Marathon aber auch


In der Unterscheidung von Optimierung auf der einen und Transformation* auf der anderen Seite steckt die Erfahrung, dass Optimierungen (im Sinne von Verbesserungen) kontinuierlich im Leben von Menschen und Organisationen geschehen. Verbesserungen sind alltäglich – also "normal", unmittelbar einsichtig und schnell umgesetzt. Im Normalfall führt eine einsichtige Verbesserung bald zu Akzeptanz.

 

Anders ist es bei wirklichen Transformationen. Sie benötigen nicht nur einen langen Atem, sondern auch gute Planung, Aufmerksamkeit und Geduld. Und so ist es auch beim Laufen: Marathon ist anders als das "normale" Laufen deutlich kürzerer Strecken wie 5 oder 10 km.


Langsam laufen, um schneller anzukommen


Einen Transformationsprozess macht man nicht "einfach so" - und so ist es auch mit dem Marathon. Ohne besonderes Training, also ohne eine gezielte und langfristige Vorbereitung, ist es für die meisten Menschen unmöglich, 42 km zu laufen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der untrainierte Körper nicht genug Energie für diese sehr lange Strecke bereitstellen kann.


Beim Marathon ist nicht in erster Linie das Tempo das Problem, sondern die Energie für die Länge der Strecke. Deshalb muss der Körper lernen, die eigenen Kohlenhydratspeicher möglichst lange zur Verfügung zu haben und seine Fettreserven besser zu nutzen. Wenn das gelingt, kann man immer größere Distanzen bewältigen, bevor die Ermüdung einsetzt. Ebenso wird der Sauerstofftransport zur Muskulatur verbessert und das Herz-Kreislauf-System trainiert. Es geht darum, dass der Körper lernt, seine Fettreserven in den Körperzellen als Energiespeicher zu gewinnen. Und das geschieht durch langes, langsames (!) Laufen. Eine Läuferweisheit sagt: Durch langsameres Laufen kommst du – beim Marathon - schneller an. Vielleicht ist diese Paradoxie ein Teil der Faszination, die den Marathonlauf für viele Läufer:innen ausmacht.


Das zentrale Element der gezielten Marathonvorbereitung ist daher ein wöchentlicher "langer Lauf". Er wird deutlich langsamer als das angestrebte Marathontempo gelaufen, beginnt mit einem Umfang von gut 2 Stunden und steigert sich auf 3 Stunden und mehr.  Bei diesen langen und langsamen Läufen lernt der Körper, immer längere Entfernungen zurückzulegen. Und ganz nebenbei kommt auch der Geist zur Ruhe.


Woher kommt eigentlich die Energie?


Gute Transformationsprozesse brauchen ebenso die Verlangsamung: den Probelauf oder das Pilotprojekt. Wir proben im Kleinen, wie wir das große – und noch ferne – Ziel erreichen. Da alle Transformationsprozesse grundlegend Routinen verändern und die Aufgaben für viele Mitarbeiter:innen verändern, ist ein Blick auf die Energiebereitstellung für den Wandel grundlegend – in Analogie zum langen Lauf beim Marathon. In vielen Transformationsprozessen findet die Frage nach der Energie wenig Beachtung, dabei gibt es dazu erprobte Werkzeuge, z. B. die "Change-Formel" oder auch "Energieformel"** genannt: Wenn vier Faktoren beachtet werden (vergemeinschaftete Einsicht in den Auslöser oder Anlass der Veränderung, praktikable erste Schritte, ein attraktives Zielbild und ausreichend Ressource für den Wandel), ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ausreichend Energie und Bereitschaft für eine Transformation zur Verfügung stehen.

 

Dennoch bleibt auch dann ein hoher Grad an Unsicherheit und Ungewissheit, weil die Transformation alle in eine unbekannte Zukunft führt. Da sind Motivation und Ziel wesentliche Orientierungspunkte und Energielieferanten.

Jedenfalls sind die langen Läufe das wesentliche Mittel gegen die Mauer oder den "Mann mit dem Hammer". So nennen die Marathonis den relativ plötzlichen Leistungseinbruch nach km 30. Ich weiß nicht genau, wann er mir begegnet, aber er wird da sein, mich herausfordern und manchmal mein ganzes Vorhaben in Frage stellen. Übrigens zeigt sich hier auch, ob ich zu Beginn das richtige Maß, also das richtige Tempo gefunden habe.

Eine Marathonweisheit lautet: Ab km 30 beginnt die zweite Hälfte des Marathons. Also jetzt fängt es richtig an, und manchmal muss das Ziel neu bestimmt werden.


"Die Mauer, gegen die ich nun anrenne, der tote Punkt, der mich gerade bei lebendigem Leibe erwischt hat, scheint endlos zu sein. Aber natürlich ist er das nicht… Irgendwann kommst du durch die Mauer, hast den toten Punkt überlebt… Dein Körper funktioniert wieder, verbrennt Fett, und dann läuft es, und es läuft schon deshalb wieder, weil deine Psyche Triumphe feiert, weil du nicht aufgegeben hast, und weil das Ziel nicht mehr weit ist."***


Am Anfang steht das Ziel


Auch bei grundlegenden Veränderungsprozessen steht die Frage nach dem Ziel ganz vorne: Was hat sich verändert, wenn der Transformationsprozess abgeschlossen sein wird? Welches Zielbild haben wir?


Beim Marathon: Welche Zeit möchte ich erreichen? Was traue ich mir realistisch zu? Wie sieht es mit der privaten und beruflichen Situation in den kommenden drei Monaten aus? Wie viele Laufeinheiten und welchen Umfang werde ich realistisch schaffen? Möchte ich wirklich diesen Aufwand betreiben?


Am Anfang steht das Ziel. Hieran richtet sich die Planung und die konkrete weitere Vorbereitung aus. Was es dann braucht, sind Disziplin und Konzentration, Ruhe und immer wieder auch Erholungstage für eine gute Regeneration   z. B. am Tag nach den langen Läufen: Auszeit oder Sabbat.


Nichts geht ohne Plan, aber niemals läuft es wie geplant


Neben einem langen Lauf stehen je nach persönlichen Zielen und individuellem Zeitbudget weitere 3 oder 4 Lauftermine (ca. eine Stunde) in unterschiedlicher Intensität auf dem Wochenplan. Nichts geht ohne Plan. Wer sich ernsthaft auf einen Marathon vorbereitet braucht einen guten Plan für etwa drei Monate, den man in Foren oder Literatur je nach individueller Zielzeit finden kann. Denn es ist plausibel, dass Läufer:innen, die zum ersten Mal einen Marathon laufen und nur ankommen möchten, sich anders vorbereiten als erfahrene Läufer:innen, die gern ihre persönliche Schallmauer von 4 Stunden oder 3:30 Stunden knacken möchten.


Alle Läufer:innen können dabei ein Lied von der "Planungsparadoxie" singen, die in der Organisationsentwicklung und im Projetmanagement nur zu bekannt ist: Nichts geht ohne Planung; aber niemals läuft es so wie geplant. In jeder Marathonvorbereitung bin ich an meine Grenzen gekommen und habe das Vorhaben und meinen Plan schwinden sehen. Denn das Leben kommt immer anders als geplant.


Vom Ziel – also von der Tiefendimension der Veränderung – hängt es auch ab, wie ein Transformationsprozess gestaltet wird, welche Schritte und Phasen notwendig sind und wer in welchen Phasen beteiligt sein soll. Auch hier braucht es einen guten und langfristigen Plan, damit am Ende genügend Energie für den Wandel bereitsteht und die Beteiligten die Transformation aktiv mitgestalten können. Eine gute und zuverlässige Vorbereitung und Planung (Prozessdesign; Veränderungs-Landkarte; Projektmanagement) ist für das Gelingen von Veränderungsprozessen eine wesentliche Voraussetzung.


Auch hier gilt, dass es nie so läuft, wie geplant. Somit bedarf es für einen umfassenden Transformationsprozess eines flexiblen Wegs, der sich am Ziel ausrichtet, aber immer wieder neu angepasst werden kann. Auf einem langen und beschwerlichen Weg begegnen uns auch hier Krisen, der Mann mit dem Hammer, die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens oder unvorhersehbare Überraschungen. Da braucht es ein Innehalten und Nachbessern.


Disziplin und Gleichmaß


Und dann kommt der große Marathontag immer näher. In der Woche vorher wird nicht mehr oder kaum noch gelaufen. Der Körper kann sich erholen und auftanken, z. B. durch viele Kohlenhydrate und ausreichend Schlaf. Die Kleidung wird ausgesucht und die Laufuhr noch einmal kontrolliert.


Und dann geht’s los. Bei den großen Stadtmarathons wie z. B. in Frankfurt starten mehr als 10.000 Läufer:innen. Und dabei besteht die große Gefahr, dass unerfahrene Läufer:innen voller Euphorie viel zu schnell loslaufen. Auch jetzt geht es wieder um Disziplin und Kontrolle: nicht zu schnell beginnen, damit die Energiespeicher möglichst lange reichen! Die geplante Laufzeit wird bei jedem Kilometerschild kontrolliert, denn der perfekte Lauf ist der absolut gleichmäßige Lauf mit einem Tempo, das über 42 km gleichmäßig gelaufen werden kann. Einige Läufer:innen schaffen es sogar, die zweite Hälfte schneller zu laufen als die erste ("Negativ-Split"). Das ist die mentale Seite des Marathons; hier sind innere Kraft und Selbststeuerung gefragt.


Jeder Marathonlauf ist eine Grenzerfahrung und Grenzüberschreitung. Auch nach mehr als 20 Marathonläufen bleibt mir vor jedem Start der Zweifel, ob ich das angestrebte Ziel erreichen kann, ob die Vorbereitung ausreichend war und die Tagesform gut ist. Und jeder Zieleinlauf ist ein großartiges Erlebnis. Und dabei ist es egal, auf welchem Platz ich lande, wenn meine Vorbereitung und mein Plan ungefähr funktioniert haben.


Dass gelingende Vorhaben in der Regel mit guter Vorbereitung, Disziplin, Zuverlässigkeit, Gelassenheit und Gleichmaß gepaart sind, ist eine Erfahrung die gleichermaßen beim Marathon und in Transformationsprozessen gemacht wird. Ein schneller Start ist nicht sinnvoll. Hier hilft das Vertrauen in die gute Vorbereitung auf dem Weg ins Unbekannte.


Leben jenseits der Routinen


Ob ich vom Marathonlaufen erzähle oder von einer Transformation unserer Kirche, der Blick, der mir dann entgegenschaut, ist ähnlich und schwankt zwischen Unglaube, Skepsis und Respekt. Transformationsprozesse setzen andere Prioritäten in einer Organisation. Sie versetzen die Organisation für eine Zeit in einen Ausnahmezustand. Jenseits der bekannten Routinen wird schon jetzt die Zukunft gedacht. Dieser Zustand braucht große mentale Kraft und für Christenmenschen ein tiefes Gottvertrauen in das, was kommen will und kommen kann. Ich habe in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass in der Vorbereitung auf Marathonläufe eine ähnliche Unsicherheit steckt wie in jedem Transformationsprozess. Gemeinsam gilt aber, dass es gelingen kann mit Zukunftsgewissheit, Zuversicht und Vertrauen, wenn man die Routinen einmal verlässt und sich auf das Wagnis eines Weges ins Ungewisse und manchmal auch an die eigenen oder gemeinsamen Grenzen einlässt.


"Ein Schlüssel für Ausdauer ist … vor allem die visionäre Kraft des Läufers. Um größere Ausdauerleistungen zu vollbringen, bedarf es eines klaren Ziels und der Fähigkeit, es im Geiste vor sich zu sehen – sich zu vergegenwärtigen, was man noch nicht vor Augen hat. Nur unsere visionäre Kraft ermöglicht uns, nach der Zukunft zu greifen, egal, ob es darum geht, eine Antilope zu erlegen oder eine Rekordzeit zu laufen."****


Peter Burkowski, Recklinghausen

Pfarrer i. R. (ehemals Gemeindepfarrer, Gemeindeberater, Superintendent, Geschäftsführer der Führungsakademie für Kirche und Diakonie, beteiligt an einigen Veränderungsprozessen)

Läufer (in jungen Jahren Mittelstrecken, seit 1999 23 Marathonläufe, in diesem Jahr zwei Halbmarathons)


      * Johannes Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell, 2003 – S. 80ff

    ** entwickelt von Richard Beckhard und David Gleicher; weiterentwickelt von osb international

  *** Ulrich Pramann, Die Mauer, in: Auf den letzten Metern, Hrsg. Detlef Kuhlmann, Hildesheim, 2021, S. 162

**** Bernd Heinrich, Laufen, Geschichte einer Leidenschaft, München, 2001, 202 (Bernd Heinrich war Prof. für                        Biologie und lief 1981 den Weltrekord über 100 km)