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Spannungsmanagement

 als

Leitungsaufgabe 


Wie Organisationen mit Spannungen umgehen, hat großen Einfluss darauf, wie leistungs- und lebensfähig sie sind. Deshalb ist Spannungsmanagement eine zentrale Leitungsaufgabe. Damit ist nicht gemeint, dass Leitung Druck erzeugen soll, etwa weil davon ausgegangen wird, dass Menschen ohne Druck nicht arbeiten würden. Und damit ist auch nicht gemeint, dass Leitung die primäre Aufgabe hätte, in den Organisationen Stress zu vermeiden. Druck und Stress meint etwas anderes als Spannung.  

 

Eine Spannung entsteht zwischen zwei Polen, die beide für die Organisation notwendig sind, und von denen unterschiedliche und zum Teil sogar gegensätzliche Handlungsimpulse ausgehen können. Diese Pole ergeben sich in der Regel daraus, dass es mehr als eine Logik gibt, die für den Fortbestand der Organisation unverzichtbar ist. 

 

Sehr anschaulich wird dies am Beispiel des Krankenhauses. Es braucht – zumindest in marktförmig geprägten Gesundheitssystemen – sowohl eine medizinische als auch eine betriebswirtschaftliche Handlungslogik. Wird die medizinische Perspektive absolut gesetzt, geht das Krankenhaus über kurz oder lang bankrott. Wird die betriebswirtschaftliche Perspektive absolut gesetzt, verliert die Einrichtung ihren Daseinszweck und ihre Legitimation. 

Beide Pole sind also notwendig, aber sie widersprechen sich oft. Und Spannungen dieser Art gibt es nicht nur in Krankenhäusern, sondern in vielen Organisationen. Kirchliche Einrichtungen und Schulen z. B. sind oft von den Widersprüchen geprägt, die sich zwischen dem inhaltlichen Auftrag auf der einen und den Verwaltungsnotwendigkeiten auf der anderen Seite ergeben. 

 

Die Spannung, die zwischen zwei solchen Polen entsteht, lässt sich nicht auflösen, denn dafür müsste einer der beiden Pole wegfallen, was den Fortbestand der Organisation gefährden würde. Möglich und nötig ist aber, situative Lösungen zu finden. Stets aufs Neue muss gefragt werden, wie in einer konkreten Situation am besten mit der Spannung umgegangen werden kann. Daraus entsteht keine Regel mit langfristiger Gültigkeit. Vielmehr steht die Organisation vor der Daueraufgabe, immer wieder neu einen in die Situation passenden Umgang mit ihrer Grundspannung zu finden. 

 

Der Umgang mit solchen Spannungen wird im Alltag einer Organisation oft als anstrengend und zeitaufwändig erlebt: Wie viel einfacher wäre es doch, wenn man einfach loslegen könnte, statt sich ständig mit diesen unterschiedlichen Perspektiven herumzuschlagen. Die daraus entstehende Sehnsucht nach einer spannungsfreien Organisation, nach Eindeutigkeit, nach Klarheit ist sicherlich gut nachvollziehbar – zumal in Organisationen, die unter hohem Leistungsdruck stehen. Und doch ist es eine wichtig Leitungsaufgabe, der Sehnsucht nach Spannungsfreiheit nicht nachzugeben. Denn sie mündet in zwei Lösungsversuchen, die beide einen hohen Preis haben. 

 

Der erste Lösungsversuch ist die Spannungsverleugnung. Hier wird alles getan, damit die Spannung im System nicht wahrgenommen wird. Beliebt ist etwa der Hinweis, dass wir uns doch alle so gut verstehen oder dass wir alle ein gemeinsames Ziel haben. Damit kann die Spannung an der Oberfläche zwar tatsächlich reduziert werden, aber nur um den Preis, dass alle Themen, bei denen die Spannung wieder hervortreten würden, tabuisiert werden müssen. Das Ergebnis ist eine fortschreitende Lähmung der Organisation, die zentrale Themen nicht bearbeiten und wichtig Entscheidungen nicht treffen kann. 

 

Der zweite Lösungsversuch ist die Dämonisierung des anderen Pols. Wenn die Spannung in einer Organisation nicht mehr geleugnet werden kann, obwohl das Ideal der Spannungsfreiheit vorherrscht, muss die Situation als fehlerhaft beschrieben werden. Folglich werden die Vertreter:innen des anderen Pols als Schuldige verstanden: Wenn sie nur einsehen würden, dass sie Unrecht haben oder wenn sie aus der Organisation gedrängt werden würden, dann könnten wir uns endlich wieder unserer Arbeit widmen. In der Regel sieht das die andere Seite genauso, so dass ein unproduktiver Konflikt entsteht, der je nach Charakter der Organisation entweder einen kalten oder heißen Verlauf nimmt. In jedem Fall zieht dieser Konflikt große Mengen an Zeit und Energie von den eigentlichen Aufgaben der Organisation ab. 

 

Spannungsmanagement bedeutet demgegenüber, die Spannungen einer Organisation für alle sichtbar und besprechbar zu machen. Dazu gehört die Beschreibung, welche Spannungen es gibt, das Sammeln der Formen, wie mit den Spannungen bisher umgegangen wurde, und die Anerkennung der Herausforderungen, die sich aus den Spannungen ergeben. Ein wichtiges Instrument kann dabei das Anlegen einer Spannungslandkarte sein: eine Aufstellung aller Ebenen und Bereiche in der Organisation, bei denen sich zwei nicht auflösbare Pole gegenüberstehen. 

 

Eine solche Landkarte ermöglicht es, Auseinandersetzung, die oft als persönliche Konflikte von Einzelakteur:innen wahrgenommen werden, anders zu deuten. Oft sind es nicht die persönlichen Differenzen, die zu Konflikten in Organisationen führen, sondern die Diskussionsparteien sind an gegensätzlichen Polen orientiert und merken nicht, dass beide Pole für die Organisation notwendig sind. Daher gibt es oft auch kein einfaches „Richtig“ oder „Falsch“ und erst recht keine Lösung, mit die Spannung dauerhaft aufgehoben werden kann. 

 

Die Botschaft der Leitung, dass eine Spannung nicht aufgelöst werden kann, sondern vielmehr für die Organisation wichtig ist, wird mitunter als Enttäuschung oder Zumutung wahrgenommen. Und doch kann die Einsicht, dass zwei Personen von unterschiedlichen Polen aus argumentieren, Diskussionen erheblich versachlichen und verkürzen. Ebenso kann es befreiend wirken, wenn der Druck wegfällt, ein letztlich nicht erreichbares Harmonieideal anzustreben. Und eine gut ausgearbeitet Spannungslandkarte sorgt für Orientierung und erleichtert es, strategischen Entwicklungsoptionen zu erkennen. Somit sorgt ein funktionierendes Spannungsmanagement trotz mancher Anlaufhürden für Entlastung und für Entscheidungsfähigkeit. 


 

Dr. Christopher Scholtz


Dr. Christopher Scholtz

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