Teamentwicklung: Werte- und Entwicklungsquadrat

Jeder Mensch verfügt über individuelle und bestimmte Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften. Dabei ist in der Regel weder die Eigenschaft als solche noch das Vorgehen der Person problematisch, sondern die Intensität.
Bereits Aristoteles beschreibt seinen Begriff der ethischen Tugend als die Mitte zwischen zwei Extremen. Das heißt, dass jeder Wert auch eine Form der Übertreibung kennt, die den Kern der Sache so verändert, dass dieser sprichwörtlich "über das Ziel hinausschießt". Nimmt man beispielweise den Wert "Sparsamkeit", dann sind die Überspitzungen der "Geiz" und die "Verschwendung".
Im genannten Beispiel fällt auf, dass die "Verschwendung" keine extreme Variante der "Sparsamkeit" ist, sondern vielmehr des Wertes "Großzügigkeit". Somit ist aus dem Modell mit drei Positionen eines mit vieren geworden: Dem Wert (1), seinem sogenannten "Schwesterwert" (2) und den jeweiligen Extrempositionen (3 + 4).
Gerne wird das Wertequadrat unmittelbar mit Friedemann Schulz von Thun in Verbindung gebracht, reicht aber letztlich bis zur "Tugend der Mitte" in der Antike zurück. Die Erweiterung zum "Wertequadrat" beruht auf Überlegungen des deutschen Philosophen Nicolai Hartmann, der Mitte des 20. Jahrhunderts verstarb, und sich vorrangig mit dem Thema der Werteethik befasste.
Dem Kommunikationsexperten Schulz von Thun allerdings ist die Erweiterung des Wertequadrats zum Entwicklungsquadrat zu verdanken. In seinem erweiterten Modell wird sichtbar, dass die Übertreibung eines Wertes das Potential hat auf den Schwesterwert hinzudeuten, eine mögliche Entwicklungsrichtung eröffnet.
Zunächst hilft das Werte- und Entwicklungsquadrat dabei, Werte und Eigenschaften aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, es deckt die Facetten eines Wertes auf: Das Modell beschreibt den Moment in dem ein im Grunde positiver Wert ins Negative umschlägt und – ganz nach Aristoteles – zur "Untugend" wird.
Anders als in der Gedankenwelt der Antike sind Werte nichts, was unabhängig von ihrem Kontext und ihrem Bezugsrahmen zu verstehen wäre. Sie sind relativ. Kurz: Es gibt immer mindestens einen Zusammenhang in dem – selbst die Extremposition eines Wertes – sinnvoll sein kann. Im oben genannten Beispiel heißt das, dass auch der Geiz einen stimmigen Kontext hat, beispielsweise existenzbedrohliche Armut, in dem eine übertriebene Sparsamkeit das Überleben gewährleistet. Erst von diesem abgebunden – also in großem Überfluss – wirkt dieser Wert deplatziert, geradezu absurd.
Selbstverständlich wird durch die Arbeit mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat nicht die Persönlichkeit oder der Charakter eines Menschen geändert. Das wäre zum einen vermessen und zum anderen übergriffig. Das Nutzen des Modells hilft vielmehr dabei die unterschiedlichen Werte von Menschen in die Kommunikation zu bringen. Genau darin wird es hilfreich in und für die Teamentwicklung.
Ein Team unterscheidet sich in einigen Wesensmerkmalen von einer Gruppe: Während eine Gruppe mehr beziehungsorientiert und somit stärker die Gemeinsamkeiten in den Blick nimmt, ist ein Team gerade dann leitungsstark, wenn es die Differenz im Hinblick auf Kompetenzen, Verständnis oder Sichtweisen der Mitglieder hervorhebt. Das gilt in Teams auch für Werte, solange diese zunächst lediglich als anders, nicht aber als richtig oder falsch wahrgenommen werden, also be-wertet oder sogar ent-wertet werden.
Zurück zum Beispiel von Sparsamkeit und Großzügigkeit. Teams, die beide Werte in ihrer Differenz miteinander verbinden und dadurch situationsangemessen reagieren und entscheiden können, sind deutlich flexibler und Organisationen, für die sie arbeiten oder entscheiden, sind resilienter. Ein solches Team – oder Leitungsgremium – kann nämlich genauso sparsam mit Ressourcen umgehen wie es auch großzügig zu investieren vermag.
Die Arbeit mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat in Teams kann dabei helfen den Wert des anderen in seinem jeweiligen Bezugsrahmen zu verorten, zu verstehen und mehr zu respektieren. Es hilft Kontext unangemessene Übertreibungen wahrzunehmen und möglicherweise zurückzunehmen. Ebenfalls unterstützt es Teams, die dazu neigen die Werte der anderen in richtig und falsch zu kategorisieren, einen blinden Fleck aufzudecken: Ein Wert kann im eigentlichen Sinn weder richtig noch falsch, er kann lediglich passend oder unpassend sein. Schaffen es Teams differente Werte zu integrieren, also "beidhändig" zu handeln, werden sie vermutlich angemessener auf wechselnde Situationen und Unvorhergesehenes reagieren können.